Krieg gegen den Iran?

David Wearing hat einen Leserbrief als Reaktion auf diesen Kommentar im britischen Guardian geschrieben. Ich fand ihn sehr zutreffend, passend auch auf deutsche Mainstreammedien (MSM). Daher habe ich ihn übersetzt:

Die Sichtweisen der Protagonisten in einem Disput zu verstehen ist essentiell für ein fortschrittliches Herangehen an Sicherheitsfragen. Das Verhalten eines Akteurs zu erklären bedeutet nicht es zu billigen; aber es ist erforderlich, um die nötigen Einsichten zu gewinnen, um den schlimmsten Ausgang eines Disputs zu verhindern.

Unglücklicherweise verzichtet Jonathan Freedland in seinem Artikel über die Möglichkeit eines israelischen Angriffs auf den Iran auf diese Herangehensweise („The West Has to Tackle Iran“, Guardian, 25. Juni 2008). Freedland hätte sowohl die iranische als auch die israelische Perspektive darstellen und beide im Licht der bekannten Fakten kritisch analysieren sollen. Stattdessen übernimmt er unkritisch die israelische Perspektive und ignoriert komplett die iranische.

Die vom Iran wahrgenommene Bedrohung ist durchaus real. Zwei seiner Nachbarn sind in letzter Zeit durch die Politik des „Regime Change“ der USA verwüstet worden. Der Iran ist umgeben von US-Militärbasen, -Streitkräften und -Verbündeten. Drei seiner engen Nachbarn (Pakistan, Indien und Israel) verfügen über Nuklearwaffen ohne Einbindung in den Atomwaffensperrvertrag, was von den USA geduldet wird. Und die Unterstützung von Saddam Hussein durch die USA im Iran-Irak-Krieg ist noch in lebendiger Erinnerung. Überdies hat die USA 2003 ohne weitere Überprüfung ein umfassendes Friedensangebot des Iran abgelehnt, das die Rücknahme der Untersützung für Hisbollah und Hamas sowie die Unterstützung für den arabischen Friedensplan beinhaltete (d.h. die Zwei-Staaten-Lösung, die von der ganzen Welt außer der USA und Israel akzeptiert wird).

Es gibt also mehrere Gründe, die dem Iran den Besitz von Nuklearwaffen als notwendig erscheinen lassen, um eine schwerwiegende und unerbittlich scheinende Bedrohung abzuwenden. Diese Gründe haben nichts mit islamistischen Extremismus zu tun oder der erbärmlichen Holocaustleugnung Ahmadinedschads. Dennoch wird dieser ausschlaggebende Kontext in Freedlands Artikel ausgelassen. Stattdessen werden die absurdesten israelischen Befürchtungen für bare Münze genommen. Zum Beispiel nimmt Freedland offenbar die Idee ernst, dass ein iranisches Regime, das pragmatisch genug ist, mit der USA über Afghanistan zusammenzuarbeiten und mit Israel selbst über Iran-Contra, auch irrational genug ist, um kollektiven Selbstmord zu verüben, indem es Israel grundlos angreift.

Sollte man die Sicht auf den Iran als „selbstmörderische Nation“ nicht Wahnsinnigen wie Alan Dershowitz überlassen anstelle den führenden Kommentatoren des Guardian?

Freedland lässt wichtige Dinge aus und verwendet gelegentlich eine alarmierende Logik. Zum Beispiel sagt er, dass der Konsens der Geheimdienste, wonach der Iran über kein Nuklearwaffenprogramm verfügt, in Israel mit Skepsis aufgenommen wird, weil der Jom-Kippur-Krieg das Ergebnis der Unterschätzung der arabischen Bedrohung war. Das hört sich so an wie Dick Cheneys „Ein-Prozent-Doktrin“, die besagt, wenn eine Bedrohung mit einer einprozentigen Wahrscheinlichkeit existiert, dass dann die USA so handeln sollten, als wenn sie mit Sicherheit existiert. So werden Belege und Vernunft ersetzt durch Fantasie und Unterstellung. Nicht der beste Weg, um zu Beurteilungen zu gelangen, die zur Einäscherung von unschuldigen iranischen Männern, Frauen und Kindern führen könnten. Ferner wird die Tatsache ignoriert, dass Ägypten 1973 Israel angegriffen hat, nachdem etliche diplomatische Friendsangebote auf der Basis der Rückgabe gestohlener ägyptischer Gebiete summarisch abgelehnt wurden, ähnlich wie 2003 Irans Friedensangebot an die USA und Israel ohne Prüfung abgelehnt wurde.

Es ist erstaunlich, dass solche Fragen nur fünf Jahre nach dem Massenvernichtungswaffen-Fiasko ignoriert werden können, wobei, nicht zu vergessen, unkritische Berichterstattung westlicher Zeitungen eine zentrale Rolle spielte.

Vielleicht war die wichtigste Auslassung die Idee, dass israelische „Befürchtungen“ vielleicht nicht ganz das sind, als was sie dargestellt werden. Es ist gerade 5 Jahre her, dass die USA einen Angriffskrieg gestartet haben, der unter dem Vorwand einer fabrizierten „Bedrohung“ auf strategischen Gewinn in Nahost abzielte. Inzwischen sollte es für jede ernstzunehmende Analyse einer von den USA behaupteten „Bedrohung“ reine Routine sein zu prüfen, ob die „Bedrohung“ nicht für politische Zwecke aufgeblasen oder fabriziert wurde. Geistig weniger gesunde Elemente in der israelischen bzw. der US-amerikanischen Regierung haben allen Grund Vorwände zu schaffen, um einen strategischen Rivalen in der Region auszuschalten zu können. Genau hier kommt Cheneys „Ein-Prozent-Doktrin“ ins Spiel, die Beweise überflüssig erscheinen lässt für Behauptungen, die einen Angriffskrieg entschuldigen.

Freedlands Aufmerksamkeit gilt ganz der Frage, was der Westen tun kann angesichts der Bedrohung durch andere. Jetzt, wo jeder fünfte Iraker ein Flüchtling ist und jeder fünfundzwanzigste eine Leiche, ist es vielleicht wichtiger zu fragen, welche Bedrohung wir für andere darstellen. Eine ausgewogenere Sicht wäre informativer für Ihre Leser gewesen und produktiver für den Frieden.

Yours sincerely

David Wearing
London

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